Interview aus der Ausgabe 01/2022 des DNP
Psychotherapie in den Medien
Psychotherapie in den Medien
Interview aus der Ausgabe 01/2022 des DNP
Wie wird Psychotherapie in Filmen und Serien dargestellt?
Gerade in den Pandemiezeiten wurden viele Filme und Serien konsumiert, in denen auch Psychotherapien dargestellt werden. Daraus beziehen nicht wenige Patient*innen ihre Informationen zu mutmaßlichem Inhalt und Ablauf. Leider ist die Darstellung jedoch häufig verzerrt, was in diesem Artikel anhand dreier praktischer Beispiele untersucht wird.
Text: Ion-George Anghelescu, Franziska Liedtke, Georgia Wendling-Platz
Das gesellschaftliche Verständnis von Psychotherapie kann sich in der Art widerspiegeln, wie sie in den Unterhaltungsmedien dargestellt wird. Daher ist es wichtig, die Realitätsnähe und Wirkfaktoren der fiktionalen Psychotherapie in Filmen und Serien zu betrachten. Für die Zuschauenden ergibt sich darüber hinaus ein Lehrstück der „Dos and Don’ts“.
Die Darstellung der Psychotherapie beziehungsweise die der Psychotherapeuten in den Medien kann Einfluss auf die Motivation von Patienten haben, sich in Therapie zu begeben [1]. Filme und Serien über Psychotherapie prägen stark die öffentliche Wahrnehmung. Vor allem Menschen, die im Alltag keine Berührungspunkte mit der Behandlung psychischer Erkrankungen haben, werden in ihrer Meinungsbildung durch die Darstellungen beeinflusst [2, 3]. Die Art und Weise, wie die Psychotherapeuten repräsentiert werden, spiegelt dabei oft das gesellschaftliche Verständnis von Psychotherapie wider [4].
Gerade während der Coronaviruspandemie und den damit verbundenen gesellschaftspolitisch einschränkenden Maßnahmen, die zu einer signifikant höheren Zeit führten, die die Menschen zuhause verbracht haben, ist der Gebrauch von Streamingdiensten, Mediatheken und auch traditionellem linearem Fernsehen stark gestiegen. Zum Beispiel gaben laut einer Umfrage von 2021 [5] 27% der Befragten eine Zunahme ihrer Fernsehdauer an. Umso wichtiger erscheint es, Psychotherapie in aktuellen Filmen und Serien einer kritischen Betrachtung zu unterziehen und sie im Hinblick auf ihre Realitätsnähe und Wirkfaktoren zu beurteilen.
Ziel dieses Fortbildungsartikels ist es, anhand von Beispielen zweier Serien und eines Films zu beurteilen, ob darin die Wirkfaktoren der Psychotherapie beachtet werden. Bei der Psychotherapie beziehen sich spezifische Techniken allein auf konkrete Aspekte des therapeutischen Handelns („technical aspect: therapeutic operations” [6]). Allgemeine Wirkfaktoren hingegen beziehen sich auf verschiedene Ebenen des Therapieprozesses.Sie sind deshalb besser geeignet, fiktionale cineastische Werke zu beurteilen als es zum Beispiel bei Dokumentarfilmen der Fall wäre. Deshalb haben wir uns hier entschieden, die häufig zitierten und als Standard verwendeten Wirkfaktoren nach Grawe [7] zu verwenden.
Wirkfaktoren nach Grawe
Demnach lassen sich – über die Therapieschulen und Diagnosen hinweg – folgende grundlegenden, unspezifischen Wirkfaktoren der Psychotherapie nachweisen:
— Therapeutische Beziehung: Die Qualität der Beziehung zwischen Psychotherapeut und Patient trägt signifikant zu einem besseren oder schlechteren Therapieergebnis bei. In diesem Zusammenhang spielt auch „Reparenting“ eine wichtige Rolle, die neu gewonnene Erfahrung des Patienten in einer unterstützenden und akzeptierenden „elternähnlichen“ Verbindung zum Therapeuten.
— Ressourcenaktivierung: gezieltes Ansprechen und Nutzen der von Patienten mitgebrachten individuellen Stärken, Fähigkeiten, Interessen und Möglichkeiten.
— Problemaktualisierung: Die Schwierigkeiten, die in der Therapie adressiert werden sollen, werden unmittelbar erfahrbar gemacht. Das kann dadurch geschehen, dass Therapeut und Patient reale Situationen aufsuchen, in denen die Probleme auftreten, oder dass sie durch besondere therapeutische Techniken, wie intensives Erzählen, Imaginationsübungen, Rollenspiele usw., die Herausforderungen erlebbar reaktualisieren. —Motivationale Klärung: Die Therapie fördert mit geeigneten Maßnahmen, dass der Patient ein klareres Verständnis für die Determinanten seines problematischen Erlebens, Denkens und Verhaltens gewinnt, also die Ursprünge, Hintergründe und aufrechterhaltenden Faktoren.
— Problembewältigung: Die Behandlung unterstützt den Patienten mit bewährten problemspezifischen Maßnahmen direkt oder indirekt darin, positive Bewältigungserfahrungen im Umgang mit seinen Problemen zu machen, womit die Selbstwirksamkeitserwartung und die Bewältigungskompetenz erhöht werden.
Die drei prototypischen, von uns ausgewählten Filme beziehungsweise Serien werden im Folgenden besprochen.
Fernsehserie: BeTipul – In Treatment
Der israelischen Fernsehserie „BeTipul“ mit zwei Staffeln von 2004 und 2008 gelang ein großer Erfolg mit 20 Adaptionen in anderen Ländern: „In Treatment“ in den USA, „En Thérapie“ in Frankreich sowie Adaptionen in Spanien, Serbien, Niederlande, Tschechien, Ungarn usw.
BeTipul beschreibt über mehrere Wochen psychotherapeutische Sitzungen um den Psychologen Reuven Dagan, gespielt von Assi Dayan, mit seinen wiederkehrenden Patienten. Die Zuschauer begleiten vier Einzeltherapien und eine Paartherapie in seiner Praxis sowie Supervisionen bei seiner früheren Supervisorin und Freundin Gila Abulafia (Gila Almagor).
Die „Ein-Raum-Atmosphäre“, die – wie in realen Psychotherapien – Verdichtung erzeugt, führt zu einer starken Spannung und fordert sowohl von den Schauspielern als auch den Zuschauern höchste Konzentration.
Der Zuschauer steigt gleich mit der ersten Patientin Na’ama, einer knapp 35 Jahre alten Chirurgin, in eine schon über ein Jahr laufende Therapie ein. Die Patientin kommt weinend, alkoholisiert und unterkühlt in die Praxis. Sie inszeniert sofort mehrere Beziehungstests mit Reuven, erzählt von ihrer vierstündigen Wartezeit vor seiner Praxis, von Unterkühlung, einem möglichen Sterben vor seinem Haus, und überlegt laut, ob sie nach einem Pullover fragen könne.
Reuven zeigt Mitgefühl, versorgt sie mit einer Decke, fordert sie auf, die vollständige Version zu erzählen, fragt jedoch auch nach Alkoholkonsum. Die therapeutische Beziehung färbt sich positiv ein, jedoch kommt schnell der Verdacht auf, dass Na’ama in ihn verliebt sein könnte. Na’ama provoziert ihn, beschreibt detailliert einen sexuellen Übergriff und beobachtet ihn dabei genau. Reuven scheint es immer unangenehmer zu werden, was sich in seiner Körpersprache deutlich widerspiegelt. Man erfährt, dass sie in einer Beziehung lebt und eine Trennung am Abend vorher provoziert hat.
Zuletzt gesteht die Patientin Reuven, dass sie sich schon zu Beginn der Therapie in ihn verliebt habe. Reuven zeigt sich erstaunt, wenngleich man es ihm nicht abnimmt, und erscheint sichtlich berührt, fast ertappt.
Die therapeutische Beziehung wird in diesen Sitzungen durchgehend auf den Prüfstand gestellt – wie kann Reuven die professionelle Distanz einhalten, wie sehr ist er verstrickt? In dieser Not sucht er seine alte Supervisorin Gila auf. Der Auftrag an Gila ist jedoch unklar – soll es eine Supervision sein, ein Freundschaftsbesuch, eine Therapie, oder das Begleichen alter Rechnungen? Gila versucht, dies mit Reuven zu klären, was er jedoch vehement verweigert.
Eigene intrapsychische Konflikte des Therapeuten
Wir erleben einen Therapeuten, der durch persönliche Probleme – seine Ehefrau hat sich von ihm entfernt und führt eine andere Beziehung, als Eltern ziehen sie nicht mehr an einem Strang, die Kinder sind ihm fremd geworden – geschwächt erscheint, bei gleichzeitiger Fürsorgemüdigkeit und depressiver Entwicklung.
Sehr intensiv beschreiben die Supervisionssitzungen die Dilemmata seiner eigenen intrapsychischen Konflikte und die seiner Patienten. Als stiller Zuschauer möchte man am liebsten aufspringen und ihm zurufen, sich eine Auszeit zu nehmen, sich auszuruhen und Übertragung und Gegenübertragung als auch seine „Schlangengruben“ aufzuräumen – und sich einen neuen Supervisor zu suchen.
Modifizierte Form der Psychoanalyse
Auch wenn es nicht explizit benannt wird, können wir davon ausgehen, dass Reuven Psychoanalytiker ist. Im Verlauf werden große Namen der Psychoanalyse genannt, wie Freud, Winnicott, Messer, Davies und Bolas. „Stephen A. Mitchell und seine New Yorker Bande“ wird zudem in der Supervision als Hinweis zu dem Problem der Übertragungsliebe genannt. Mitchell ist Vertreter der relationalen Psychoanalyse und hat das Buch „Can Love Last?“ verfasst [8], das posthum veröffentlicht wurde.
Reuven arbeitet mit einer modifizierten Form der Psychoanalyse, er spricht im Sitzen mit seinen Patienten, lässt sich mehr ein, deutet häufig, spricht unbewusste Konflikte an und bezieht sich auf deren frühen Beziehungserfahrungen. Er schwankt jedoch in seinen Gesprächstechniken. So nutzt er systemische Fragetechniken, wie zirkuläres Fragen, Reframing, Bewältigungs- und Ressourcenfragen, und wiederum erleben wir ihn in der psychoanalytischen Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit eher wenig. Die scheint er aufgrund seines eigenen fehlenden Gleichgewichts häufig zu verlassen.
Grenzübertritte des Therapeuten
Problematisch ist ebenso, dass Reuven einen Gutachtenauftrag über eine verunfallte junge Turnerin Ayala, gespielt von Maya Maron, willkürlich in eine Therapie umwandelt und so die Aufträge vermischt. Bei genauerem Hinsehen und -hören wehren sich seine Patienten immer wieder klar und klug gegen seine Grenzübertritte und sein Verlassen der therapeutischen oder gutachterlichen Position und werfen ihm Verstrickung und Hilflosigkeit vor. Er versucht, seinen Burnout durch Untergraben der Autonomiebemühungen seiner Patienten und durch Annehmen neuer Patienten zu bewältigen, gerät hierdurch noch mehr in die Falle des Überengagements, und weiterführend dann in die Aggression und zynische Ablehnung seiner Patienten.
Die israelische Psychotherapierealität ist eine andere als in Deutschland mit krankenkassengestützter Finanzierung und Richtlinienpsychotherapie. Dort muss die Psychotherapie von den Patienten selbst finanziert werden. Es ist zu vermuten, dass eine stringente Diagnostik, Erstellen eines Behandlungsplanes oder Festlegung von Therapiezielen auch deswegen in der Serie kaum vorkommen.
Betroffenheit des Therapeuten schwächt Wirkfaktoren ab
Wenn wir die psychotherapeutischen Wirkfaktoren nach Grawe in dieser Serie betrachten, können diese zwar prinzipiell gefunden werden, allerdings schwächen sich diese immer wieder durch die Betroffenheit des Therapeuten ab. Genau genommen erleben wir einen arbeitsunfähigen Therapeuten, der sich nur noch von Sitzung zu Sitzung schleppt, seine Probleme auf seine Patienten überträgt und dringend eine Auszeit benötigt.
Für uns als Zuschauer, die selbst Psychiater, Psychotherapeuten beziehungsweise auch Supervisoren sind, zeigt sich ein Lehrstück über „Dos and Don’ts“ – lehrreiche Beispiele für die Ausbildung junger Kollegen, Reflektionsbeispiele für erfahrene Therapeuten und selbstverständlich auch die eine oder andere bekannte prekäre Situation der eigenen Therapeiegeschichte.
Für Laien sind diese Serien eine herausfordernde Kost. Die Serien unterscheiden sich kaum untereinander, lediglich in Bezug auf länderspezifische Themen, Historie und kollektive Traumata. Sie bieten einen guten Einblick in die psychotherapeutische Arbeit, die bisweilen für uns Therapeuten kräftezehrend ist, und auch zu eigenen Erkrankungen führen kann. Die Entzauberung des allwissenden und hellsichtigen Therapeuten Reuven zeigt beeindruckend, dass sich in der Psychotherapie zwei oder mehr Menschen treffen, mit ihrer jeweils eigenen Lebensgeschichte, ihrem eigenen Leid und ihren persönlichen Bewältigungsstrategien, und miteinander nach Lösungen forschen.
Netflix-Serie: Gypsy
Diese Thrillerserie Gypsy (eine Staffel, 2017) hat eine kognitive Verhaltenstherapeutin als Hauptfigur, Jean Holloway, gespielt von Naomi Watts. Jean bringt sich durch ihr unprofessionelles Verhalten in emotional kritische, aber auch tatsächlich bedrohlichte Situationen. Als Höhepunkt dessen lässt sie sich beispielsweise auf intime Beziehungen mit den Angehörigen und anderen wichtigen Menschen ihrer Patienten ein.
Zu Beginn der Serie wird dargestellt, dass Jean psychologische Mitarbeiterin einer gut laufenden Praxis ist, verheiratet mit dem beruflich erfolgreichen, liebevollen Ehemann Michael (Billy Crudup), eine achtjährige Tochter und gute Freunde hat. Die Ehe wird durch das undurchsichtige und widersprüchliche Verhalten der Protagonistin (ver)kompliziert.
Trotz der von außen betrachteten sehr positiven Lebensumstände beginnt sie, zunächst ohne erkennbaren Grund, ein Café zu besuchen. Dort arbeitet Sidney (Sophie Cookson), die Ex-Freundin eines Patienten, der seit Monaten aufgrund einer nicht als solche bezeichneten Anpassungsstörung, vielleicht sogar depressiven Episode, die Trennung nicht überwinden kann. Jean stellt sich weder als Therapeutin ihres Ex-Freundes vor, noch bespricht sie ihr Vorhaben vorab mit ihm, sondern lernt Sidney mit einer spontan erfundenen Identität kennen.
Auch privat ändert sich Jeans Verhalten: Sie fordert von Michael offensiv sexuellen Kontakt ein, trinkt Whiskey und legt sich mit konformistischen Müttern von Schulkameraden ihrer Tochter an.
Als Zuschauer mit professionell psychotherapeutischem Background fallen einem mehrere mögliche psychiatrische Diagnosen für Jean ein, der es immer schwerer fällt, die Fassade der perfekt funktionierenden, stets in sich ruhenden Frau aufrechtzuerhalten. Als akuter destabilisierender Belastungsfaktor kommt ihr Misstrauen Michael gegenüber hinzu, er könne eine außereheliche romantische Beziehung begonnen haben. Zusätzlich wird ihre problematische Rolle als Tochter ihrer Mutter deutlich, die sich ihr gegenüber emotional kalt und abwertend zeigt.
Dabei bleibt Jean viele Folgen lang ein vermeintliches Rätsel, der Titel der Serie versucht jedoch bereits auf die bunte, facettenreiche Intentionalität und emotionale Instabilität der Protagonistin hinzuweisen. Naomi Watts lässt den Zuschauer diese Wechsel von beherrscht zu spontan, von ruhig zu wütend, miterleben, ohne sie zu begründen. Glaubhaft ist das nicht immer. Das Risiko, das Jean beruflich und privat mit ihrem Doppelleben eingeht, erscheint viel zu hoch.
Persönliche Verstrickung der Psychotherapeutin
Dramaturgisch geschickt, aber höchst unrealistisch ist die Darstellung der persönlichen Krise, auf die Jean zusteuert. Kleine Lügen, um einen Abend frei zu haben, werden bald zur Gewohnheit. Der tägliche Alkoholbedarf steigt stetig an. Schließlich hat die sonst so in den meisten Situationen kontrolliert und besonnen agierende Jean bei der Geburtstagsfeier ihrer Tochter einen Impulskontrolldurchbruch und gerät in einen heftigen Streit mit der Mutter eines anderen Kindes.
Die durch erotische Spannung und gegenseitige Faszination gekennzeichnete Beziehung zu Sidney ist von starken emotionalen Wechseln gekennzeichnet. Es wird deutlich, wie sehr sich Jean verstrickt, aber auch die Vitalität genießt. Die Serie wird stark durch diese Ambivalenz getragen, was aber bei einer realen aktiven Psychotherapeutin, für deren tägliche Arbeit ein großes Ausmaß an eigener psychischer Stabilität erforderlich wäre, nicht möglich sein sollte.
Nebenschauplätze, die die eigene Störung der Psychotherapeutin illustrieren, sind die Geschichten anderer Patienten von Jean. Zu der möglicherweise zusätzlich einer Borderline-Persönlichkeitsstörung an einer Polytoxikomanie leidende Allison baut Jean eine bemutternd-distanzlose Beziehung auf, bei der man sich fragt, welche eigenen biografisch begründeten Defizienzen kompensiert werden sollen. Zweitens gibt es die Witwe Claire, die weiter ein ausgeprägtes Kontrollbedürfnis gegenüber ihrer Tochter hat und ihre dysfunktionalen Handlungsweisen nicht begreift.
Jean dringt auch hier in die Privatsphären ihrer Patienten ein und beeinflusst völlig distanzlos den Behandlungsverlauf. Dies wäre alles justiziabel und in der Realität kaum vorstellbar. Die Versuche des Leiters der Gemeinschaftspraxis, Jean zu supervidieren und einzelne zum Vorschein kommende Behandlungsfehler zu korrigieren, laufen immer wieder durch geschicktes Verschleiern ins Leere.
Bezüglich der Wirkfaktoren findet sich nur eine starke therapeutische Beziehung. Diese wird allerdings von der Therapeutin zum Ausleben der eigenen Pathologie missbraucht.
Netflix-Film: The Woman in the Window
The Woman in the Window ist ein Mystery-Thriller von Joe Wright aus dem Jahr 2021, der auf dem gleichnamigen Roman von A.J. Finn basiert und bei Netflix zu sehen ist. Dargestellt ist die dramatische Entwicklung der Kinderund Jugendlichen-Psychotherapeutin Anna Fox, gespielt von Amy Adams, die seit einem Autounfall, bei dem ihre Tochter und ihr Ehemann ums Leben kamen, nicht mehr praktiziert. Sie selbst leidet seit dem Unfall an einer Depression und einer Agoraphobie, die es ihr nicht ermöglichen, das Haus zu verlassen, in dem sie zurückgezogen lebt. Sie befindet sich in Behandlung eines Psychiaters (Tracy Letts), der ihr Medikamente verschreibt und sie zu Hause besucht. Die Diagnose einer Agoraphobie wird von der Patientin selbst gestellt und sie berichtet einer Nachbarin gegenüber, aufgrund von Angstzuständen und Panikattacken nicht mehr nach draußen gehen zu können.
Der Therapeut erwähnt die seit dem Unfall bestehende Depression und einen Suizidversuch in der Vergangenheit. Seine Behandlung besteht in der Verschreibung von Medikamenten wie der für Angststörungen nicht zugelassene und wahrscheinlich nur bei „performance anxiety“ wirksame β-Rezeptorenblocker Propranolol sowie einer graduierten Habituation in vivo, die er Fox empfiehlt. Die Patientin solle, seinem Rat folgend, nach draußen gehen (anfangs mit einem Regenschirm) und sich graduell mit ihren Ängsten konfrontieren, er selbst begleitet diese Expositionsversuche nicht.
Kein klar definierter Behandlungsplan
Anna Fox, die weiterhin das Haus nicht verlässt, verstrickt sich im Laufe des Films in Beobachtungen ihrer Nachbarn, wird Zeugin eines Verbrechens im Haus gegenüber, und führt Telefonate mit ihrem verstorbenen Ehemann. Ihre Medikamente nimmt sie zusammen mit Alkohol zu sich. Für sie und die Zuschauer sind Realität und wahnhaftes Erleben schließlich nicht mehr voneinander zu trennen. Anna dekompensiert und gerät in eine psychische Krise. Für den Therapeuten, der sich professionell distanziert verhält, obwohl er seine Patientin zu Hause aufsucht, ist dies Anlass, ihr seine „andere Nummer“ zu geben, um immer erreichbar zu sein. Einen Behandlungsplan oder operationalisierbare Therapieziele sowie eine Evaluation dieser Ziele nach dem Zusammenbruch scheint es nicht zu geben. Kaum Therapiefortschritt Hinsichtlich der therapeutischen Wirkfaktoren nach Grawe [9, 10] ist die Darstellung der Behandlung von Anna Fox eindimensional, therapeutische Interventionen mit dem Ziel der Problembewältigung oder der Ressourcenaktivierung werden nicht gezeigt. So macht die Patientin die Bewältigungserfahrung, das Haus verlassen zu können, erst zu dem Zeitpunkt, als sie dazu gezwungen ist – um nicht selbst Opfer des Täters zu werden, der den Mord an der Nachbarin begangen hat. Als Behandlungsfortschritt in Folge der Therapie ist diese Zunahme von Handlungskompetenzen für den Zuschauer nicht erkennbar. Eine Ressourcenorientierung in der Behandlung mit dem Ziel, bestehende Kompetenzen zu reaktivieren sowie die motivationale Bereitschaft der jungen Frau zu stärken, sich in Expositionen mit ihren Ängsten zu konfrontieren, ist ebenfalls kein Bestandteil der medialen Therapie. Einzig die therapeutische Beziehung, die auf einem länger bestehenden Vertrauensverhältnis zu beruhen scheint, kann somit die Veränderungsmotivation der Patientin erklären. Auch Klärungserfahrungen, wie ein zunehmendes Verständnis der eigenen Symptomatik oder die Einsicht in das Störungsbild, gefördert durch den Therapeuten, werden nicht dargestellt. Es erfolgt eine Problemaktualisierung, im Sinne einer Reaktivierung der Problemlösefähigkeit im Verlauf des Films, die sich in einer aktiven Verhaltensänderung der Patientin äußert, jedoch scheinbar nicht auf die Psychotherapie zurückzuführen ist, sondern einzig auf die vertrauensvolle Beziehung zum Therapeuten. Bewusstseinsschaffende Interventionen mit dem Ziel eines genauen Verständnisses für die eigenen psychischen Probleme, zugrundeliegende Bedürfnisse oder übergeordnete Schemata sind nicht Teil der dargestellten Behandlung, die somit nicht sehr repräsentativ ist und wenig psychotherapeutische Realität zeigt.
Fazit für die Praxis
Zusammenfassend können wir feststellen, dass es einzelne Elemente in allen hier besprochenen cineastischen Darstellungen von Psychotherapie gibt, die realistisch sind. Diese gehen aber aus dramaturgischen Gründen je nach Bedeutung der Psychotherapie für den Film mit einer Verstrickung des Therapeuten einher, die im echten Leben so nicht tragbar wäre. Professionelle Distanz bei gleichzeitiger Empathie findet sich in den Darstellungen höchstens gelegentlich.
Diagnosen werden nur selten gestellt, meist erfolgt keine Therapie im engeren Sinne, sondern Coaching zur Lebensbewältigung, die verwendeten Verfahren bleiben unklar und die Ziele sind sehr kurzfristig angelegt. Tab. 1 und Tab. 2 zeigen semiquantitativ, wie sehr sich die besprochenen Filme/Serien in der Erfüllung wichtiger Qualitätskriterien bezüglich einer Psychotherapie unterscheiden.
Daher ist davon auszugehen, dass – wie bei anderen Berufsbildern auch – die mediale Darstellung keine Grundlage für eigene Berufsentscheidungen oder, als Betroffene, für die Durchführung einer Therapie ist. Die Darstellung in Filmen und Serien kann sehr unrealistisch sein und mit einer professionellen Behandlung nicht viel zu tun haben. Diese ist eher von Problemanalyse und Zieldefinition geprägt als von verbalem Schlagabtausch und von unproduktiven bis destruktiven zwischenmenschlichen Machtkämpfen.
Wir als professionelles Gegenüber für unsere Patienten sollten uns dieser möglichen Erwartungshaltung jedoch bewusst sein, gerade wenn wir Patienten erstmalig diagnostizieren und behandeln. Es wäre hilfreich, wenn sich Forschungsprojekte in prospektiven Studien dieses Themas annehmen könnten, um den potenziellen Einfluss auch bezüglich des Ausmaßes beurteilen zu können.
Abschließend noch eine Empfehlung unsererseits: Einen humoristischen Zugang zum Thema „Darstellung der Psychotherapie“ findet sich aktuell in der Serie „Kranitz – Bei Trennung Geld zurück“ (Norddeutscher Rundfunk), wobei viel improvisiert und absichtlich übertrieben wird.
Prof. Dr. Med. Ion-George Anghelescu, geschäftsführender Chefarzt des MHI Berlin;
Franziska Liedtke, psychologische Psychotherapeutin am MHI Berlin
Literatur
1. Morgan G. Why people are reluctant to see a psychiatrist. Psychiatric Bulletin 2006;30:346–7
2. Wedding D, Niemiec R. The clinical use of
films in psychotherapy. Journal of clinical psychology 2003;59:207–15
3. Wedding D, Boyd MA, Niemiec RM. Movies
and mental illness: Using films to understand psychopathology. Toronto: Hogrefe and Huber; 2005
4. Gabbard G. Psychotherapy in Hollywood Cinema. Australasian Psychiatry 2001;9:365–69
5. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/118/umfrage/fernsehkonsum-entwicklung-der-sehdauer-seit-1997/ [Zugriff
10.1.2022]
6. Orlinsky D. Der menschliche Kontext von Psychotherapien. Psychotherapeut 2004;49:167–81
7. Grawe K. Psychologische Therapie. Hogrefe, Verlag für Psychologie, 1998
8. Mitchell SA. Can Love Last? The Fate of Romance Over Time. W.W. Norton; 2002
9. Grawe K, Donati R, Bernauer F. Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe; 1994
10. Flückinger C. Basale Wirkmodelle in der Psychotherapie. Psychotherapeut 2021;66:73–82
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